Fritz Müller-Kamphausen
Geflügelter Löwe, 1926
Nachdem der Architekt Dominikus Böhm mit dem weiteren Umbau der Kirche St. Johann Baptist in Neu-Ulm beauftragt worden war, initiierte er 1925 unter den Studenten der Kölner Werkkunstschule einen künstlerischen Wettbewerb für eine Skulptur. Sie sollte die Wand bekrönen, welche die linke Seite des Kirchvorplatzes gegen den Stadtraum abgrenzte. Der Entwurf des Münchner Bildhauers Fritz Müller-Kamphausen setzte sich durch. Noch knapp 100 Jahre später lässt sich erahnen, wie ungewöhnlich und innovativ seinerzeit die Formensprache und die Materialwahl des damals erst 25 Jahre alten Bildhauers gewirkt haben müssen.
In der Gestaltung der Figur wählte der junge Bildhauer eine neue, eigenwillige Darstellung für ein traditionelles Motiv. Der geflügelte Löwe mit seiner Bibel steht als Symbol seit jeher für den Evangelisten Markus. Fritz Müller-Kamphausen stellt ihn jedoch unüblich schlank dar, die Hinterläufe sind gespannt, die Flügel im damaligen Stil des Art déco zu strengen Ornamenten geformt. Vor allem die Statik der Figur hat der Bildhauer bewusst riskant gestaltet: Dieser Löwe stützt sich auf das Buch – aber dieses hängt zu mehr als der Hälfte in der Luft.
In den 1920er-Jahren war das Material Beton für Plastiken noch keineswegs üblich. Dass Fritz Müller-Kamphausen es hier verwendete, passt wie eine Ergänzung zu den Baumaterialien und der eher skulpturalen Auffassung von Dominikus Böhms Kirchenbau. Lange wurde wegen der eigenwilligen Darstellungsweise dieser Skulptur gestritten. Immerhin war der Löwe ja bisher als sehr kräftiges, würdevolles Wappentier gezeigt worden. Es ist kaum verwunderlich, dass die Nationalsozialisten ihn schon bald nach ihrer Machtübernahme entfernen ließen; die Kirche unterstützte die Aktion sogar. Arthur Benz begrüßte als Schriftleiter des Historischen Vereins in Neu-Ulm 1936 diese Haltung – setzte sich dann allerdings seit 1953 dafür ein, dass der Löwe 1958 wieder an seinen Platz vor der Kirche zurückkehren konnte. Damals wurde auch der neue Sockel geschaffen, der im Gegensatz zum ursprünglich gemauerten Sockel ebenfalls aus Beton ist.
Wenig an Müller-Kamphausens Plastik erinnert an einen „echten“ Löwen. Aber warum hat der Bildhauer vieles anders dargestellt? Was geschieht, wenn er die Proportionen des Tierkörpers streckt, oder die Mähne stilisiert? In der ursprünglichen Aufstellung blickte der kleine, zur Seite gewendete Kopf in Richtung desjenigen, der die Kirche durch das Hauptportal betrat. Wohin blickt er jetzt, in seiner neuen Aufstellung auf der rechten Seite des Kirchenzugangs? Die eigenwillige Statik der Figur könnte man zu Hause mit einem Tisch, einem Buch und einem Gewicht nachstellen und ausprobieren. Geht das überhaupt?
Detail: statische Fragen