Unbekannter Künstler
Putte, 1950
Der Putto oder die Putte ist ein traditionsreiches Motiv. Kindlich und pausbäckig, geflügelt oder nicht, bevölkern Putti seit der Antike verschiedene Szenerien in Gemälden, Kirchen oder profaner Bauplastik. Zumeist assistieren die Knabengestalten antiken Gottheiten oder Helden bei ihren Taten und bilden zur bedeutungsvollen Haupthandlung einen fröhlich-spielerischen Kontrapunkt. Die Putte in der Brückenstraße in Neu-Ulm hat jedoch etwas Besonderes: Unter dem linken Arm trägt die Gestalt zwei dicke Bücher. Der rechte Arm lagert auf einem Stapel Papieren. Dieses ungewöhnliche Motiv taucht allenfalls in Zusammenhang mit Bibliotheken auf. Der unbekannte Künstler, der diese Bauplastik schuf, stattete sie zusätzlich mit einer Brille aus. Das gibt es sonst nirgendwo.
Mit locker verschränkten Beinen auf dem Keilstein über dem Eingangsbogen sitzend, thront die Putte vor der deutlich sichtbaren Jahreszahl 1950 und blickt nach unten, in Richtung derjenigen, die sich diesem Eingang nähern.
Figürlich gestaltete Felder über Türöffnungen, sogenannte Supraporten, nehmen im Allgemeinen auf die Funktion des Raumes oder Hauses Bezug. In Neu-Ulm ging die kleine Symbolgestalt aus der Nutzung des Hauses hervor: Als die Fassade nach dem Zweiten Weltkrieg wiederhergestellt wurde, markierte die Putte den Eingang zu einem Optiker und einem Schreibwaren- und Zeitschriftenladen.
Heute hat diese kleine Bauplastik einem besonderen Kunstort den Namen gegeben: In der Putte sieht man zeitgenössische Kunst. Die Projekte, Performances, Projektionen und gezeigten Ausstellungen gehen neue und oft ungewohnte Wege für die bildende Kunst. Auch wenn der figurative Fassadenschmuck deutlich aus einer anderen Zeit stammt als die in der Putte gezeigte Kunst: Die individuelle Gestaltung der cool bebrillten Putte wirkt wie eine Ansage.
Im gleichen Gebäudeblock zum Augsburger Torplatz hin findet sich ein ähnliches Supraporte-Feld aus dem Jahr 1913. Ein Putto hält einen Merkurstab, ein zweiter hobelt einen girlandenartigen Span aus dem Holz. Was könnten diese Reliefs wohl einst bedeutet haben – und wie passt das zur heutigen Nutzung?
Ältere Reliefs über dem Portal am Augsburger Torplatz